Donbass – eine Reise in den Krieg: Frieden und Freundschaft stehen obenan! (1)

EU- und Nato-Regierungen tun ja zuallermeist so, als sei der Donbass gar nicht da: Menschen, die hungern? Selbst schuld. Kiew streicht die Renten, zerschießt Schulen, Krankenhäuser und Wohnungen – so ein Pech aber auch. 6.000 Tote, 10.000 Verletzte, zwei Millionen Flüchtlinge, davon eine Million in Russland: Wie kann man diese humanitäre Missachtung, Nicht-Achtung, Ver-Achtung beenden?
Die USA wollen die Ukraine in eine Chaos-Zone mit Terrormanagement verwandeln, um Europa zu schwächen, das ist klar. Deshalb auch funktionieren die alten Strategien und Gegnerschaften nicht mehr: Als die Sowjetunion niedergerungen wurde, hat Washington Europa noch gebraucht, da war man freundlich. Jetzt sind wir zur Plünderung freigegeben – und kein Mittel ist dafür zu schmutzig. Wenn wir Europäer das nicht ganz flott merken – und schmeißen die von Washington restlos korrumpierten Regierungen nicht schnellstens ‚raus -, werden wir astronomische Verluste erleiden. Das ist, kurzgefasst, der Lageüberblick.
Und dies alles trieb mich in den Donbass. Und ich wollte selbst ein Gefühl bekommen für Menschen und Verhältnisse, nach vielen Beiträgen dazu aus Potsdam.
Jetzt kann ich es ja sagen: Ich habe zwei Monate lang vergeblich versucht, mit den Regenten im Donbass irgendwie in Kontakt zu treten. Auch Verbindungen in die Linksfraktion halfen nicht weiter, da war ja immerhin eine ganze Fünfergruppe um Gehrcke und Hunko losgezogen, zwei sehr sympathische politische Haudegen. Auch bekam ich nicht einmal über die Uni in Rostow am Don – oder einen professionellen örtlichen Dienstleister – einen Dolmetscher für dieses Reisevorhaben. Schließlich hatte ich angesichts der bevorstehenden Eskalation nicht den Eindruck, ich sollte nun noch viel länger zuwarten – und wählte die Methode „gate crasher“: einfach hinfahren – und das Mögliche versuchen. Am Freitag Vormittag, 5. Juni, habe ich alle Flüge durchgeprüft – und den Terminkalender geprüft. Einzige Lösung: SOFORT fliegen. Klar war von Anfang an: Weil ich als Kiew-Kritiker über die Putschisten-Stadt sicher keine Chance auf Einreiseerlaubnis hätte: Das geht nur über Russland – und über Rostow-am-Don.
Die 2-Mio.-Stadt selbst ist teilweise traumhaft schön, mit den üblichen Altbauten, dazu auffällig relativ häufigen kaukasischen Gesichtern (hübsch!). Diese friedliche Perle ist Washington sicher ein Dorn im Auge – und ich erwischte mich bei dem unguten Gefühl, dass ein ausgewachsener Krieg in der Ukraine auf diese Blüte Südrusslands übergreifen könnte.
Als Austragungsort der Fußball-WM 2018 wird die Stadt vermutlich in den Sumpf westlicher Hetze geraten. Der höchst fragwürdige ex-FIFA-Präsident verdankte seinen unrühmlichen Jobverlust doch vor allem dem Wunsch Washingtons, bis 2018 eine riesige, antirussische Hetzkampagne mit WM-Teilnahme-Boykott zu erwirken.

Anreise
Und so ging’s gleich am Samstag los: Aeroflot mit guten Anschlüssen – und immer noch vernünftigen Preisen. Bei einem überdurchschnittlichen Beinraum in der Economy-Klasse… Ohne die ständige Einsatzbereitschaft meiner Frau und die vernünftigen und hilfsbereiten Kinder wäre das alles nicht zumachen.
Der russische Flughafen Scheremetjewo ist beim Umsteigen nicht der übersichtlichste, dafür steht dort aber ein netter junger Mann von Aeroflot mit einer Namensliste in der Hand, der sagt wo’s langgeht.
In Rostow-am-Don – und nicht nur dort: Achtung mit den Taxis: nur mit laufendem Taxameter – das sollte man auch gleich bei der Bestellung verlangen.
Am nächsten Morgen ging’s gleich weiter zum Grenzübergang Nowoschachtinsk – denn das erste Reiseziel im Donbass sollte Lugansk werden. Die Begründung ist simpel: Wegen geringerer Kampftätigkeit wäre der dortige Regierungschef womöglich nicht so gestresst wie sein Kollege in Donezk. Schnell noch ein Abschiedsfoto am Grenzübergang mit unseren hervorragenden Deutsche-Mitte-Haftschildern auf Russisch (s. beigefügtes Foto*) – und dann ging’s los. Inzwischen habe ich drei Pässe: Einen nur für Nato-Länder und befreundete Staaten, einen für alle anderen, vor allem die „bösen“: Afghanistan, Pakistan, Iran etc. – und einen nur für Russland.
Problem: Ein Deutscher, der einen Pass vorlegt, in dem hintereinander nur drei russische Visa sind – das macht auch stutzig. Ich durfte zwar rasch weitergehen – aber am Militärposten auf Donbass-Gebiet, gleich hinter der völlig zerstörten alten Abfertigungshalle, ging’s los: Mit wem habe ich Termin in Lugansk – und in welchem Hotel reserviert? OK, wie soll man das erklären: So etwas lässt sich eben aus Deutschland heraus und ohne Telefonnummer schwer machen, nicht wahr? Ich wurde gut behandelt, während drinnen im „Büro“ das Telefon heißlief. Und nach einer schier endlosen Stunde kam der sehr nette, junge Offizier aus seinem von Schüssen durchsiebten Holzverschlag, wedelte mit meinem Pass und strahlte: „Welcome“! Und was er dann tat, war besonders hilfreich: Er befahl dem Fahrer eines hoffnungslos überfüllten Überlandbusses* („Rostow-Lugansk-Rostow“), mich trotzdem einsteigen zu lassen und mitzunehmen, im Gang – mit 10-15 anderen.

Lugansk
Beim Einstieg habe ich für das Foto gewohnheitsmäßig gelächelt – und die müde und misstrauische Reaktion der Menschen*, die verhärmten Gesichter, die traurigen Blicke – die sagten mehr als lange Abhandlungen über das Grauen dieses der Ukraine aufgezwungenen Krieges.
So ging’s dann los. Zum Glück stiegen schon nach 15 Kilometern die ersten 15 Mitreisenden aus – und nach weiteren zehn nochmal ein Dutzend, einfach auf Zuruf, alle mit dickem Gepäck voller Einkäufe in Russland. Da gab es plötzlich Luft – und sogar einen guten Sitzplatz.
Die Straßenzustände waren zumeist übel. Viele Geschäfte in den Ortschaften, durch die wir fuhren, waren geschlossen, das wäre an einem Sonntag nicht ungewöhnlich, oder gar verbarrikadiert – das lässt dann schon eher auf Kriegsfolgen schließen. Das Land ist sehr wohltuend grün, ganz leicht hügelig, die Menschen sind freundlich, zugewandt, hilfsbereit. Wir fuhren an stillgelegten Kohleminen vorbei, einzelnen kleineren Industrieruinen, zerstörten Wohnblöcken. Überall die Anzeichen von Leerstand und schwierigen Zeiten, Ärmlichkeit, wo früher blühendes und in Maßen angenehmes Leben geherrscht haben musste.
Und schließlich rollten wir in Lugansk ein, bis zum Busbahnhof. Der Busfahrer selbst brachte mich zum nächsten Taxi – das fuhr mich ohne viel Federlesens zu einem größeren und älteren Hotel, das eine frühere solide Pracht ausstrahlte – und ziemlich unbewohnt aussah. Eine kurze Verhandlung mit dem dicken, gemütlichen Besitzer, der draußen vor dem Hotel mit einigen Gästen an einem schiefen Tischchen beim Bier saß – und ich war willkommen. Auf dem Hof standen die Geländewagen der örtlichen OSZE-Gruppe, deren Mitglieder ich auch kennenlernte. Gute Leute, die neugierig wurden, als ich die ersten Sätze hinter mir hatte.
Im Hotel empfing mich eine junge und gut englischkundige Frau an der Rezeption, erklärte freundlich und gewandt alles Wichtige, organisierte den sofortigen Ankauf einer SIM-Karte für mein Handy, die wir dann mit Gelächter und Gefummel auch in den bescheuerten iPhone-Schacht hineinschnippelten, Maßarbeit.
Schließlich fragte ich die ebenso humorvolle wie hilfreiche Angestellte, ob sie sich nicht eine Stunde freinehmen wollte, um mich zum Regierungspalast zu begleiten – und, hoffentlich, für den kommenden Montagmorgen, einen Termin beim Chef zu machen: Plotnitzki, bei dem sie dann allerdings ebenfalls dabei sein müsste… Sie zögerte; ich sagte: „Wollen Sie einfach Ihren Chef fragen? Sooo viel ist hier ja offenbar nicht zu tun – sonst mache ich das auch gern.“ Wir lachten. „Wie soll ich Ihrem Land sonst helfen?“
Und kurz darauf saßen wir Auto und fuhren hin. Fast leere Straßen, wenig Betrieb. Die Stadt zeigt weit weniger Kriegsschäden als vermutet, gerade in der Innenstadt wurde viel aufgeräumt. Im wunderschönen Park gegenüber des Regierungspalastes* herrschte idyllische Ruhe, auch deshalb, weil so viele Einwohner geflohen sind – nur ein paar kleinere Trichter im Waldboden erinnern noch an die Kämpfe, alles ist peinlichst sauber und repariert.
Am Eingang im Regierungspalast saßen Soldaten, freundlich und hilfsbereit. Der Chef bekam meine Geschichte übersetzt. Morgen ganz früh, hieß es dann, um acht Uhr da sein.
Am Abend bestellte ich im Hotelrestaurant ein gutes Abendessen – und dann gab es einige Stunden lang Gespräche, die nicht wiedergegeben werden können. Todmüde fiel ich ins Bett: Badezimmer mit Vollausstattung, knapp 20 Quadratmeter, Schlafzimmer noch größer: zusammen zehn Euro die Nacht. Die Wirtschaft in Lugansk ist kaputt. Irgendwie seltsam, in solcher Umgebung einzuschlafen und zu denken: ‚Die Ruhe ist trügerisch. Jeden Moment kann vor dem Fenster eine Granate einschlagen.’ Wer Afghanistan hinter sich hat, schläft immer ein.
Wir waren um kurz vor acht da. Wurden nicht groß kontrolliert am Eingang – und ins Büro des Büroleiters geführt: Alexander. Der packte sein Deutsch aus, riss Witze, in denen die Worte „Schnaps“ und „Schwiegersohn“ vorkamen – und im Nu waren wir bei der Sache. Zackig ging’s los, effizient organisiert und klar im Kopf, so macht das Freude am warmen Montagmorgen. Nahrungsmittel würden gebraucht, hieß es – und Medikamente. Das klang plausibel, kosten doch Kartoffeln in Lugansk bis zu fünfmal mehr als in Donezk. Wir tauschten Telefonnummern und Erreichbarkeiten aus – und dann fehlten noch das kurze Treffen mit Regierungschef Plotnitzki mitsamt „Beweisfoto“. „Pressegespräch“, hieß es, „das dauert zwei Stunden.“ Ich entschied mich für’s Warten. Dann wurden wir auf den Gang geführt, die Treppe nach unten, ins nächste Vorzimmer. Dort stand ein Soldat mit Kalaschnikow und fragte mich, ob ich Waffen dabeihätte. Ich grinste: „Verdammt wichtige Frage, vielleicht sogar die wichtigste, aber ein bisschen spät gestellt – oder? NEIN.“ Alle lachten, der Soldat lächelte. Ruhig, freundlich – und wachsam. Es gibt einfach unglaublich gute Typen. Manchmal, so traurig das ist, fördert der Krieg diese Charaktere zutage.
Und dann gingen wir ins nächste Zimmer, da stand er plötzlich vor mir: etwas kleiner als ich, ein Bulle von Typ, kräftige, warme Hände – und sah so ungeheuer müde aus. Wenn irgendjemand aus seiner Truppe ihm übelwill, wird der Feind ihn umlegen. Großartig bereichern kann er sich vermutlich auch nicht, dazu ist zu wenig zu verteilen. Diesen „Job“ muss man wollen. Igor Wenediktowitsch Plotnitzki* machte nicht den Eindruck, er hätte sich vorgedrängelt. Wir sprachen kurz über den Hilfsbedarf, der 51-jährige bestätigte Alexanders Angaben. Zwei Minuten später standen wir auf der Straße. Ich machte einige Fotos und stieg ins Taxi. Meine „Dolmetscherin“ hatte ihre Gesellenprüfung erfolgreich hinter sich gebracht: Hoch engagiert, sehr ernsthaft, zurückhaltend und angemessen angezogen, wirkte sie auf die Umgebung hervorragend.
Ich bot ihr an, mich nach Donezk zu begleiten, wir würden binnen 30 Minuten weiterfahren; ich wollte keine Zeit verlieren. Ich bot einen verhältnismäßig bescheidenen Euro-Betrag an. „Das ist aber sehr viel“, sagte sie. „Mehr als angemessen, wenn der nächste Termin genau so gut klappt wie dieser hier“, antwortete ich.

Von Lugansk nach Donezk
Und dann fuhren wir zweieinhalb Stunden lang die Front ab. Immer wieder flache Granatlöcher im Straßenbelag, wie sie das kleine Kaliber 80 mm typischerweise hervorbringt. 1,2 Millionen Einwohne zählte das Gebiet der „Volksrepublik Lugansk“ im vergangenen Sommer, die sind wohl kaum noch alle da. Die Straße war jedenfalls sehr wenig befahren. Alle paar Kilometer gab es einen befestigten Straßenposten der Armee, der Ablauf war immer der gleiche: Pässe ’raus, Kofferraum auf, kurzer Blick auf meinen seriösen dunkelblauen Flugkoffer, die schönen Deutsche-Mitte-Haftschilder mit den Farben des Heiligen Georg darauf, Kofferraum wieder zu, sehr freundliches Winken, weiterfahren. Etwa alle 10-15 Kilometer hieß es: „Hier ist es sehr gefährlich, wir hatten vor drei Tagen/vor einer Woche/vor zwei Wochen Beschuss auf dieser Strecke.“ Und dann war da noch das Kreuz am Straßenrand, das an den Donbass-Helden Alexei Masgavoi erinnerte, der am 23. Mai 30 Kilometer hinter Lugansk nahe Mikhailowka mit sechs seiner Begleitern in einem Hinterhalt getötet worden war. Es ist auch typisch für die Probleme des Landes, dass auch die örtliche Mafia zu den Verdächtigen zählt. Masgavoi hatte sich immer gegen diese Verbrecher gestellt.
Dann kam das Ortsschild „Debalzewo“: Anfang Februar, während der Minsk II-Waffenstillstandsverhandlungen, ging hier die Post ab. Unter hohen Verlusten musste Kiew den Kessel am strategischen Eisenbahnknotenpunkt räumen lassen, nachdem das Angebot zum friedlichen Abzug ohne Waffen von Poroschenko ausgeschlagen worden war. Mit Recht erblickten die westlichen Lügenmedien in dem ganzen Vorgang einen Erfolg Moskaus. Aus Kurzsicht haben sie nicht verstanden, dass dieser Erfolg ohne die Unterstützung aus der Bevölkerung nicht denkbar gewesen wäre. Und wenn eine wichtige Tatsache verschwiegen wird, kann daraus natürlich auch niemand etwas lernen, nicht wahr?
Eine doppelgleisige Eisenbahnbrücke lag in Trümmern, angeschossene Apartmentblöcke standen schwarz verrußt und verlassen in dünn bevölkerten Ortschaften – bei den von hohen Bäumen überschatteten Datschensiedlungen musste man schon sehr viel genauer hinschauen, um die Kriegsschäden zu sehen. Aber sie waren da – und heftig.
Je näher wir an Donezk herankamen, desto besser wurde die Straße.

Deutsche Übersetzung Deutsche Mitte Haftschild: „Wir stehen für ethische Politik mit unseren Grundwerten: Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität.“

* Fotos: © Christoph Hörstel

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